Andacht

Wenn Liebe Brücken baut

von Andreas Schlamm

Foto: Trueffelpix

Über den Predigttext zum 1. Sonntag nach Trinitatis: 1. Johannes 4,13-21

Predigttext
13 Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat. 14 Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt. 15 Wer nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. 16 Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 17 Darin ist die Liebe bei uns vollendet, auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. 19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. 21 Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

Der erste Brief des Johannes entfaltet, wie Zusammenleben gelingt und welcher Haltungen es dazu bedarf. Er warnt vor der zerstörerischen Kraft des Hasses und beschreibt, wie Jesus Christus Menschen hilft zu überwinden, was sie von Gott, von sich selbst und voneinander trennt.

Wir erfahren, was es bedeutet, zu Gottes Team zu gehören. Wir lernen, was den Geist der Wahrheit auszeichnet und wie wir ihn von anderen Geistern – zusammenfassend als „Geist des Irrtums“ bezeichnet – unterscheiden können. Er ermutigt dazu, einen Lebensstil einzuüben, der zutiefst und umfassend von der Liebe geprägt ist.

Und mittendrin dieser Spitzensatz: Gott ist die Liebe. Auf den Punkt, klar und an Ausstrahlung nicht zu überbieten. Diese Liebe durchdringt alles. Sie ist die Energie, die unsere Welt in Gang gesetzt hat und am Laufen hält. Sie ist aber auch die Kraft, die uns in Zeiten des Unglücks, das uns widerfahren kann, tröstet und uns hilft wieder aufzustehen. Die Liebe führt uns in eine innere Freiheit, die alle Ängste und Sorgen zur Ruhe kommen lässt. Was für eine starke Verheißung!

Gottes Wesen ist Liebe – das gilt in Verbindung mit Johannes 3,16: Gott ist uns in Jesus Christus nahegekommen und stellt eine Brücke dar, die alle menschlichen Abgründe überwindet. Die göttliche Liebe, mit der verglichen unsere menschliche Liebe nur ein schwacher Abglanz ist, wird in unseren Herzen entzündet in der Begegnung mit Jesus Christus. Sie ist ein Geschenk; nichts, das wir aus eigener Kraft erreichen könnten, sondern durch Hingabe.

Die Tiefe und Wahrheit, die er verkörpert, hat Menschen durch alle Zeiten hindurch fasziniert und verändert sie auch heute noch. Auch mich, der als damals 17-Jähriger nur eine Ahnung davon hatte, die mich aber magisch anzog und mich zu dem werden ließ, der ich heute bin.

Johannes verschweigt nicht, worin das Anspruchsvolle liegt: Nämlich darin, in der Liebe Gottes zu bleiben und nicht müde zu werden. Die Lebenspraxis stets davon bestimmen zu lassen – Enttäuschungen, Rückschlägen oder den Veränderungen, die wir alle erleben, zum Trotz.

Gottes Liebe ist grenzenlos. Sie gilt den Nächsten und – es wird noch anspruchsvoller: Sie schließt sogar die Feinde mit ein!

Gottes Liebe gibt niemanden auf. „Lasst uns lieben“ bedeutet, Gott in Menschen zu sehen, die meine Wege kreuzen. Aufmerksam zu sein für ihre Bedürftigkeit, die manchmal sehr deutlich zutage tritt, aber oft auch versteckt ist.

In unserer Welt nehmen Polarisierungen zu – im Kleinen wie im Großen. Andreas Reckwitz beschreibt den sozialen Wandel als „systematische Hervorbringung von Einzigartigkeiten“. Die „Gesellschaft der Singularitäten“ – so der Titel seines Buches – bedeutet, dass wir längst in einer Gesellschaft voller Minderheiten leben, in der Aushandlungsprozesse uns stärker als in früheren Jahrzehnten herausfordern. Wir alle sind Minderheit.

Was heißt „Lasst uns lieben“ unter diesen Vorzeichen? Meines Erachtens liegt eine Kernkompetenz von Kirche darin, berechtigte Anliegen von Minderheiten zu identifizieren und für sie einzutreten, Brücken zwischen Minderheiten zu bauen, die Kommunikationskanäle zwischen ihnen offenzuhalten und für eine faire Gesprächskultur zu sorgen. Dazu kann es von Vorteil sein, dass wir selbst zur Minderheit werden, denn so können wir leichter verstehen, wie sich Minderheit anfühlt.

Gebet

Vater, die Vielfalt unserer Welt, die du geschaffen hast, zeigt, dass du Vielfalt liebst. Wir sind selbst ein Teil davon. Aber wo Vielfalt ist, begegnet uns auch manches, was uns neu und fremd erscheint. Hilf uns die Liebe als universelle Sprache zu begreifen, die Unterschiede überwindet und Menschen verschiedener kultureller Prägung verbindet. Amen.

Andreas Schlamm (56) ist Diakon und Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD) in Berlin.