Andacht

Gott kommt nah

von Anke von Legat

Foto: epd-bild / Gustavo Alabiso

Über den Predigttext zum Sonntag Judika: Hebräer 5,1-9

Predigttext
1 Jeder Hohepriester wird aus Menschen ausgewählt und für Menschen eingesetzt. Er wird zum Dienst vor Gott eingesetzt, damit er für ihre Sünden Gaben und Opfer darbringt. 2 Er kann mitfühlen mit den unwissenden und irregeleiteten Menschen. Denn auch er selbst ist der menschlichen Schwachheit unterworfen. 3 Ihretwegen muss er auch für sich selbst Opfer für seine Sünden darbringen – genauso wie er es für das Volk tut. 4 Und niemand nimmt sich selbst die Würde, Hohepriester zu sein. Vielmehr wird man von Gott dazu berufen, wie es auch bei Aaron der Fall war. 5 So hat auch Christus sich nicht selbst die Würde verliehen, Hohepriester zu werden. Vielmehr hat er sie von dem empfangen, der zu ihm gesagt hat: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.“ 6 Und an einer anderen Stelle sagt er: „Du bist Priester für alle Zeit, wie Melchisedek es war.“ 7 Als Jesus hier auf der Erde lebte, brachte er seine Gebete und sein Flehen vor Gott – mit lautem Rufen und unter Tränen. Denn der konnte ihn vom Tod retten. Und wegen seiner Ehrfurcht vor Gott ist er erhört worden. 8 Obwohl er der Sohn war, hat er es angenommen, wie ein Mensch durch Leiden Gehorsam zu lernen. 9 So wurde er zur Vollendung gebracht. Seitdem ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber ihrer ewigen Rettung geworden. 10 Gott nannte ihn ja „Hohepriester, wie Melchisedek“ es war. (Übersetzung: Basisbibel)

Abstand – ein Wort, das wir in der Corona-Zeit zu fürchten gelernt haben. Abstand halten zu anderen Menschen allgemein, oft genug aber gerade auch zu unseren Liebsten – das war manchmal notwendig, aber gleichzeitig schier unmenschlich hart. Umso deutlicher ist vielen aber auch geworden, wie wertvoll und unverzichtbar Nähe ist. Einem anderen in die Augen zu sehen, seine Stimme zu hören, ihn vielleicht zu berühren, zu umarmen: alles Dinge, die das Leben lebenswert machen und sich nicht ersetzen lassen.

Gott und Mensch: Nähe trotz Abstand

Abstand – das ist auch ein Thema, das den Autor des Hebräerbriefs beschäftigt. Ihm geht es um den Abstand zwischen Gott und Mensch: Wie kommen Gott und Mensch zusammen? Wie lässt sich die Entfernung zwischen Gott und Mensch verringern und wie können sie sich begegnen?

Der Verfasser des Briefes hat da eine ganz eigene Theorie, für die er Elemente der jüdischen Theologie mit den Erzählungen über Jesu Leben, Tod und Auferstehung verbindet: Für ihn findet Begegnung zwischen Gott und Mensch vor allem im Ritus des Opfers statt. Opfer machte eine Versöhnung, eine Annäherung zwischen Gott und Volk möglich, obwohl beide doch eigentlich himmelweit voneinander entfernt sind. Das macht auch die Übersetzung des jüdischen Theologen Martin Buber deutlich: „Nahung“ nennt er das Opfer. Und das Opferritual schlechthin findet am Versöhnungstag statt, an dem der Hohepriester – den der Autor mit der Person des Priesterkönigs Melchisedek aus der Abrahams­erzählung identifiziert – im Tempel vor Gott tritt und für die Sünden des Volkes um Vergebung bittet.

Hohepriester – nur ganz anders

Solch ein Hohepriester ist auch Jesus – so, und doch ganz anders. Das versucht der Verfasser des Hebräerbriefs zu erklären: Jesus wurde von Gott nicht nur als Hohepriester eingesetzt, sondern auch als Sohn. So war er auf der einen Seite zwar uns Menschen ganz nah, in seinem Leben, seinem Leiden, sogar in seinem Tod – aber er hatte eben auch zu Gott eine besondere, einzigartige Nähe.

Diese Nähe allerdings ist Jesus offenbar nicht einfach in den Schoß gefallen – so stellt es jedenfalls der Hebräerbrief dar. Er musste vielmehr darum kämpfen. Der Predigttext spricht von Leid, Tränen und Flehen. Das klingt nach Abstand, der weh tut. Jesus scheint Gott keineswegs selbstverständlich in jeder Situation als nah empfunden zu haben.

Aber er blieb konsequent in seinem Vertrauen und wurde von Gott auferweckt und „zur Vollendung gebracht“. Damit ist sein Tod in den Augen des Hebräerbrief-Verfassers das Opfer, das ein für allemal versöhnt und eine Beziehung zu Gott möglich macht, trotz des himmelweiten Abstands zwischen beiden.

Wir sind heute zurückhaltender geworden mit diesem Opfer-Verständnis. Gott braucht kein Opferritual, um uns nahe zu kommen. Das rabbinische Judentum hat es umgedeutet in Beten, Lernen der Tora und Handeln nach der Weisung Gottes. Und wir können Vertrauen, Ehrfurcht und Gehorsam als Grundlage für unsere Nähe zu Gott sehen. Jesus hat uns vorgelebt.

Gebet

Gott, wir würden so gern ganz deutlich spüren, dass du in jedem Moment an unserer Seite bist und uns begleitest und beschützt. Aber es gibt Zeiten, da fühlen wir uns so, wie Jesus sich gefühlt haben muss, als er im Garten Gethsemane geweint und gebetet hat: alleingelassen, ausgeliefert. Schenk uns dann Vertrauen und Hoffnung. Wir suchen deine Nähe. Amen.

Anke von Legat (54) ist Pfarrerin und theologische Redakteurin bei UK.